von Lida Winiewicz
Premiere 13. März 2003
Mit
Birgit Doll
und
Hilde Sochor
Regie: Gerhard Alt
Das Schicksal eines Landes besteht aus Einzelschicksalen, kaum je bewahrt, fast nie beschrieben. Und doch machen gerade sie Geschichte plastisch und gegenwärtig. Zwei Frauen erzählen aus ihrem Leben – eine Bäuerin, Kleinhäuslerstochter, und eine Städterin, höhere Tochter. Zwei Frauen kommen zu Wort, die nichts verbindet außer Ort und Zeit ihres Lebens. Denkbar verschieden erleben sie die Schicksalsjahre Österreichs im vergangenen Jahrhundert: den Zusammenbruch der ersten Republik, den „Anschluss“, den Terror, die Befreiung. „Späte Gegend“ ist kein Theaterstück, sondern ein Stück Text, genaugenommen zwei Texte – die Geschichte der Bäuerin stammt aus dem Roman „Späte Gegend“ von Lida Winiewicz, die Erzählung der Städterin hat sie ergänzend für das Volkstheater Wien zur Uraufführung im Jahre 1993 geschrieben. Der Abend wurde auch am Münchner Volkstheater zum Dauerbrenner; voriges Jahr ist er mit Hilde Sochor und Birgit Doll erneut in den Spielplan dse Volkstheaters aufgenommen worden. Die mit zahlreichen Bühnen- und Fernsehstücken international erfolgreiche Autorin verbindet Literatur und Zeitgeschichte zwingend zu einem eindringlichen Erlebnis.
Zwischen Einmarsch und Kriegsausbruch war es Ziel des NS-Regimes, soviele österreichische Juden wie möglich zur Auswanderung zu zwingen. Dazu diente der von Gestapo, SS und einheimischen Nationalsozialisten geschürte Terror „von unten“, die „spontanen“ Exzesse und Gewaltakte ebenso, wie systematische Verhaftungen – 1938 wurden in Wien 2000 Juden festgenommen und in verschiedene KZ eingewiesen – und Verordnungen und Erlässe, die Juden aus dem öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben ausschlossen. Die meisten jüdischen Arbeiter und Angestellten verloren sofort nach dem „Anschluß“ ihren Arbeitsplatz und in den ersten neun Monaten der NS-Herrschaft wurden 44 000 „Judenwohnungen“ „arisiert“.
Am 23. April 1938 wurde ein Numerus Clausus von zwei Prozent für inländische Juden an den Universitäten verfügt.
Am 27. April 1938 wurde die Absonderung jüdischer Mittelschüler und ihre Konzentration in acht „rein jüdischen“ Mittelschulen verfügt.
Am 9. Mai wurde dieser Erlaß auf die Pflichtschulen ausgedehnt. Nach Ablauf des Schuljahres 1938/39 wurde jeder öffentliche Unterricht für jüdische Schüler verboten.
Am 20. Mai traten die „Nürnberger Gesetze“ für Österreich in Kraft.
Am 31. Mai 1938 wurden alle jüdischen Beamten, sowie alle jene, die als „Mischlinge ersten Grades“ galten, oder mit einem Juden oder „Mischling ersten Grades“ verheiratet waren in den Ruhe stand versetzt.
Am 5. August 1938 wurdeJuden per Verordnung des Polizeipräsidenten von Wien das Betreten der meisten Parkanlagen verboten.
Im Dezember 1938 war die Mehrheit der aus den österreichischen Bundesländern stammenden Juden nach Wien übersiedelt worden.
Am 3. Dezember trat die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens in Kraft, die die zwangsweise „Arisierung“ jüdischer Betriebe und jüdischen Grundbesitzes und die Deponierung von Bargeld, WErtpapieren und Wertgegenständen auf Sperrkonten verfügte.
In der Nacht vom 9. auf 10. Dezember 1938, der „Reichskristallnacht“ wurden 42 Synagogen und Bethäuser und tausende noch in jüdischem Besitz befindliche Geschäfte und Wohnungen zerstört, über 6000 Wiener Juden wurden verhaftet, 3700 nach Dachau transportiert.
Am 21. Februar 1939 wurde die jüdische Bevölkerung verpflichtet innerhalb von zwei Wochen alle Gegenstände aus Gold, Platin, Silber, Edelsteinen und Perlen abzuliefern.
Im April 1939 wurde der Mieterschutz für Juden abgeschafft, damit begann die Ghettoisierung der Wiener jüdischen Bevölkerung in bestimtmen Bezirken. Das städtische Wohnungsamt begann, freien Wohnraum zu schaffen, indem es Juden innerhalb Wiens in vorwiegend von Juden bewohnte Häuser umsiedelte, wobei die Wohnungen mit mehreren Familien belegt wurden.
Nach Kriegsausbruch, im September 1939 wurden staatenlose und vormals polnische Wiener Juden verhaftet und nach Buchenwald transportiert. Ebenfalls mit Kriegsausbruch war es Juden verboten zwischen zwanig Uhr und sechs Uhr im Winter und zwischen 21 Uhr und 5 Uhr im Sommer ihre Wohnungen zu verlassen.
Am 20. September 1939 wurde die Beschlagnahme aller in jüdischem Besitz befindlichen Radiogeräte verfügt.
Ab Januar 1940 durften Juden nur noch in bestimmten Judengeschäften einkaufen. Die infolge des Krieges rationierten Lebensmittelzuteilungen waren für Juden geringer und wurden laufend weiter reduziert. Vom Bezug von ebenfalls rationierten Kleidern und Schuhen waren Juden ausgeschlossen.
Am 20 April 1940 „Mischlinge ersten Grades“, sowie Ehemänner von Jüdinnen und „Mischlingen ersten Grades“ aus der Wehrmacht ausgeschlossen. Am 1. Juni 1941 wurde es Juden verboten, ohne Zustimmung der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ umzuziehen.
Ab 1. September 1941 mußten alle Juden den „Judenstern“ tragen. Ab 31. Oktober 1941 bestand eine „allgemeine Arbeitspflicht“ für Juden. Sie mußten die ihnen vom Arbeitsamt zugewiesenen Tätigkeiten annehmen, hatten keinen Anspruch auf Urlaubs- oder Krankengeld oder Lohnzuschläge für Überstunden und Feiertagsarbeit, durften nur gruppenweise und ohne Kontakt zur „arischen“ Gefolgschaft eingesetzt werden, das Gesetz über Kinderarbeit hatte für sie keine Gültigkeit.
Etwa geleichzeitig begannen die systematischen Deportationen in das „Generalgouvernement“. Von ihnen ausgeschlossen blieb nur, wer „Geltungsjude“ oder „arisch versippt“ war, also mit einem „Arier“ in aufrechter „Mischehe“ lebte.
Am 13. November 1941 erzwang eine Verfügung die Abgabe aller Schreibmaschinen, Rechenmaschinen, Vervielfältigungsapparate, Fahrräder, Photoapparate, und Ferngläser.
Im Jänner 1942 mußten Juden alle in ihrem Besitz befindlichen Pelz- und Wollsachen sowie Skier, Ski- und Bergschuhe abgeben.
Im Februar 1942 wurde Juden das Halten von Haustieren untersagt. Ab 1. April 1942 mußten alle „jüdischen“ Wohnungen mit einem Judenstern gekennzeichnet werden.
Im Juni 1942 wurden Juden per Verordnung verpflichtet, alle Elektrogeräte abzugeben.
Im Juli 1942 wurden auch „Mischlinge ersten Grades“ vom Besuch von Haupt- Mittel- und höheren Schulen ausgeschlossen.
Am 8. Mai 1942 wurde den Juden das Betreten des gesamten Wienerwalds, des Bisamberges und der Feudenau verboten.
Ab Mai 1942 durften Juden öffentliche Verkehrsmittel nur noch mit polizeilicher Erlaubnis benutzen.
Am 20. Mai traten die „Nürnberger Gesetze“ für Österreich in Kraft. Nach einem verwirrenden System, bei der die Religionszugehörigkeit der Großeltern entscheidend war, wurden die Juden nun in „Volljuden“ und „Geltungsjuden“ und „Mischlinge ersten Grades“ eingeteilt.
Als „Volljude“ galt, wer mindestens drei jüdische Großeltern hatte. „Geltungsjude“ war, wer zwar nur zwei „volljüdische“ Großeeltern hatte, aber der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder mit einem „Volljuden“ verheiratet war. „Mischling ersten Grades“ war, wer zwei jüdische Großeltern hatte, aber weder der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte, noch mit einem Juden verheiratet war. 1939 wurden knapp 17.000 „Mischlinge ersten Grades“ in Österreich registriert.
Durch eine Fülle von Gesetzen, Erlässen und Verordnungen wurden „Volljuden“ systematisch ihres Besitzes und ihrer Bürgerrechte beraubt. Ihre Betriebe und Wohnungen wurden „arisiert“ oder in der „Reichskristallnacht“ zerstört, sie durften weder Schulen beduchen, noch studieren, sie wurden ab1939 in bestimmten Bezirken ghettoisiert, das Betreten von Parks und Erholungsgebieten war ihenn ebenso untersagt wie nächtliches Ausgehen und für die Butzung öffentlicher Verkehrsmittel brauchten sie eine Sondergenehmigung. Ihre Lebensmittelrationen waren geringer als die von „Ariern“ und wurden ständig weiter reduziert, sie mußten nicht nur Geld und Wertpapiere, Wertgegenstände und Schmuck, sondern auch Elektrogeräte, Radios, Photoapparate und Ferngläser, Schreib- und Rechenmaschienen, Pelz- und Wollsachen, Skier und Bergschuhe abliefern. Sie durften nicht in ihren erlernten Berufen arbeiten und wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet. Ab 1941 mußten sie den Judenstern tragen und wurden aus Wien deportiert – zuerst in Ghettos im „Generalgouvernement“, später in die Vernichtungslager. Ende 1942 war die Deportation der österreichischen Juden praktisch abgeschlossen. Am 31. Dezember 1942 lebten nur noch 7989 Juden in Wien, großteils „Geltungsjuden“ und „Mischehepartner“.
„Geltungsjuden“ waren in allen Punkten demselben Terror ausgesetzt wie „Volljuden“, blieben aber, wenn der arische Elternteil noch am Leben war vor Deporationen verschont.
Einen gewissen Schutz genossen auch Juden, die in „aufrechter Mischehe“ lebten, wobei es „priveligierte“ und „nichtpriveligierte“ Mischehen gab. War der Mann Jude, galt die Ehe in der Regel nicht als „priveligiert“, was unter anderem bedeutete, daß er den Judenstern tragen mußte. Vor der Vertreibung aus ihren Wohnugnen waren weder „nichtpriveligierte“ noch „priveligierte“ gefeit. Der Schutz dauerte nur so lage, wie die Ehe bestand, Scheidung oder Tod des Ehepartners beendeten ihn.
„Mischlinge ersten Grades“ galten weder als „Arier“, noch als Juden. Sie und ihre Ehegatten durften wie „Voll- und Geltungsjuden“ weder im Staatsdienst, noch in Rechtsberufen tätig sein, nicht der „Reichskulturkammer“ angehören, also keinen künstlerischen Beruf ausüben, keine landwirtschaftlichen Güter erwerben und waren aus der Wehrmacht und vom Studium ausgeschlossen. Sie durften weder Juden noch „Arier“ heiraten und hatten ab 1942 keinen Anspruch auf Kinderbeihilfen mehr. Ab 1942 durften sie auch weder Haupt- Mittel- noch höhere Schulen besuchen. Sie erhielten aber die gleichen Lebensmittelkarten wie „Arier“, mußten keinen Judenstern tragen, wurden nicht ihres Besitzes beraubt und blieben von Deporationen ausgenommen. 1944 wurden sie zur Zwangarbeit verpflichtet, der sich aber auf Grund der Kriegswirren viele entziehen konnten. Vor Willkür und Ausschreitungen waren natürlich auch Mischlinge ersten Grades nicht geschützt.
Pressestimmen
Eine Bäurin und eine Städterin resümieren österreichische Zeitgeschichte, reflektiert in ihren Biografien. vom ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten. Hilde Sochor brilliert als Bäurin. Wer die scharfzüngige, scharfsinnige Sochor einmal im Gespräch erlebt hat, wundert sich immer wieder, mit welcher Versunkenheit und Herzlichkeit, auch mit welch noch immer wachsender Reife und Liebe sie die bodenständigen alten Frauen erfüllt. Ihre Figuren wirken frisch, wie neu geboren. – Birgit Doll gibt der Städterin eine eigenartig durchsichtige, tiefe Versehrtheit und Verstörung. Während sie sich erinnert, tastet sie immer wieder nach der Zigarette, als müsste sie sich festhalten unter dem Druck unsagbarer Angst.
Barbara Petsch, Die Presse
Es gibt kein Entkommen aus selbst Erlebtem, Durchlittenem: Lida Winiewiczs „Stück Text“ lässt zwei sehr unterschiedliche Frauencharaktere von Leben und Leiden in dunklen Zeiten des vergangenen Jahrhunderts erzählen. Eine leise Aufarbeitung – auch traumatischer – Erlebnisse, die sich für große Darstellerinnen als ideal erweist. Hilde Sochor und Birgit Doll sind solche Idealfälle gestalterischer Kraft.
Thomas Gabler, Kronenzeitung
Hilde Sochor und Birgit Doll, zwei atemberaubende Interpretinnen ihrer Gestalten – Rollen will man diesmal wirklich nicht sagen, so viel Wahrheit ist in diesen figuren. Überaus starker Beifall.
Renate Wagner, Frauenblatt